An der Börse wird nicht geklingelt
Der unerfüllte Traum vom Market Timing – Teil 1
Ein Plädoyer gegen Aktivitätsdruck, gegen Risikomanagement durch „rein und raus“, gegen aktives Handeln und überhöhte Erwartungen an Fondsmanager.
Fast alle Aktienindizes notieren derzeit (Ende Januar 2021) auf oder dicht bei ihren Höchstständen. Und das, obwohl die Gewinne und auch Gewinnaussichten vieler Unternehmen durch die Corona-Pandemie und weitere Faktoren beeinträchtigt sind.
Aktien sind also weltweit teuer. Begründungen hierfür gibt es viele (Nullzinspolitik, Liquiditätsdruck durch Notenbank-Billionen etc.). Sie sollen hier nicht wiederholt werden.
Wachsende Anlegersorgen
Privatanleger stellen sich nun zunehmend die Frage: Soll ich angesichts dieser Höchstkurse meine Aktien oder Aktien-ETFs nicht doch besser ganz oder zumindest teilweise verkaufen? Also die Gewinne mitnehmen!
Um dann später wieder – zu erhofft günstigeren Preisen – an die Aktienmärkte zurückzukehren? Also meine künftigen Einstiegskurse verringern!
Toller Plan!
Damit hätte man seine Gewinne erst einmal gesichert. Könnte einen Rücksetzer, eine Preiskorrektur oder gar einen Aktiencrash umgehen. Und das gerade jetzt, angesichts der aktuell hohen Bewertungen… Um dann, nach dem Crash sein trocken gehaltenes Pulver wieder an die Börse zu bringen.
Geniale Idee?
Meine Antwort: ein klares Nein. Nicht so. Denn das ist nichts als reine Spekulation.
Zur Orientierung: Es gibt nur zwei Erscheinungsformen von Spekulation.
Es gibt das Spekulieren auf Einzelwerte (Stock Picking) und das Spekulieren auf „den richtigen Zeitpunkt“ (Market Timing).
Idealerweise würden Sie also mit „dem richtigen Zeitpunkt“ den Markt so abpassen, dass Sie Ihre Aktien vor dem Abschwung verkaufen – und vor dem erneuten Preisanstieg zurück kaufen.
Okay, oder zumindest würden Sie so hellseherisch sein, in der Anfangsphase des Abschwungs zu verkaufen und bereits im ersten Teil der nachfolgenden Erholungsphase zurückkaufen.
Mit erfolgreichem Market Timing würden Sie also Ihre Verluste durch Kursrücksetzer im Börsenzyklus vermeiden oder zumindest verringern. Und damit eine Überrendite im Vergleich zum Markt erzielen.
Wenn das doch nur funktionieren täte… 😉
Die dunkelgrünen Pfeile zeigen ideale bzw. rechts davon leicht verzögerte Verkäufe. Für die hellgrünen Pfeile gilt dies entsprechend für Käufe.
Im Idealzustand wird also bei Markthöchstständen verkauft und bei Tiefstständen zurückgekauft. Selbst wenn sowohl Verkauf als auch Kauf erst etwas zeitverzögert nach Trendumkehr erfolgen, bringt Market Timing in der Theorie also noch schöne Zusatzgewinne.
Theoretisch!
Die Manager aktiver Fonds versprechen auch exakt dieses Vorgehen. Und werden nicht müde, ihren zu erwartenden Erfolg zu begründen.
Sie versprechen – meist innovative – geniale Handelssysteme, eine Vielzahl technischer und fundamentaler Indikatoren, die korrekte Interpretation der publizierten Unternehmenszahlen, Strategieanalyse, Kennzahlenanalyse sowie Sentimentanalyse (Erhebung der Marktmeinungen) zu Hilfe zu nehmen usw., um die „richtigen“ Ein- und Ausstiegszeitpunkte zu finden.
Sie versprechen also, eine große Kristallkugel zu besitzen. Und zwar nicht nur eine große, sondern DIE ultimative, große Kristallkugel!
Die Realität sieht anders aus. Schade!
Sowohl private Anleger als auch Profis verpassen beim Versuch des Market Timing die „richtigen“ Aus- und Einstiegszeitpunkte. Tappen in überall herumliegende „Bullenfallen“ oder „Bärenfallen“.
Und: Sie laufen den Börsentrends meist hinterher – anstatt ihnen vorauszugehen.
Die obige Abbildung zeigt – stark vereinfacht – einen Market Timer, der der Entwicklung mehr oder minder stark hinterher läuft.
Die dunkelroten Pfeile zeigen mittelmäßige bzw. rechts davon ganz schlechte Verkäufe. Für die hellroten Pfeile gilt dies entsprechend für Käufe.
Durch verspäteten Verkauf realisiert der “wackere” Market Timer trotz seiner Aktivität einen mehr oder minder großen Teil der Verluste.
Das sind echte Verluste.
Und durch verspäteten Wiedereinstieg in den Markt, entgehen ihm mehr oder minder große Kursanstiege. Da er (noch) nicht wieder im Markt ist, entstehen ihm somit Verluste dadurch, dass der günstigere Einstiegspreis verpasst wurde und die Wiederanlage zu höheren Preisen erfolgte.
Das sind Opportunitätsverluste (entgangene Gewinne).
Das Problem
Nichts und niemand kann die Märkte prognostizieren. Alles kann passieren – auch das Gegenteil.
Und daher funktioniert Market Timing auch manchmal! Aber zu selten und keineswegs zuverlässig. Sondern eben nur durch reinen Zufall.
Schade 😉
Zwei wichtige Argumente
Erstens: Im Vergleich zu der von mir durchgängig ausgesprochenen Empfehlung, die Füße still zu halten, also „buy and hold“ zu praktizieren, verursacht Market Timing eine Menge Stress, Mühe und vor allem Transaktionskosten.
Die Transaktionskosten sind in der Summe nicht unerheblich und machen sich deutlich in einer schlechteren Rendite bemerkbar.
Zweitens: Über viele Jahrzehnte hinweg zeigten die Aktienmärkte – bei allen Schwankungen – stets einen positiven Langfristtrend. Und stiegen mit jährlichen Wachstumsraten von rund 8–11 Prozent.
Hier einfach mal zwei Beispiele für Langfrist-Charts:
Je mehr Zeit ein Market Timer sein Geld nun außerhalb der Märkte „parkt“ – zum Beispiel auf einem Giro-, Tages- oder Festgeldkonto – umso größer ist der zeitliche Anteil, an dem er nicht an diesem langfristigen Aufwärtstrend, also dem Erwartungswert des Wachstums teilhaben kann.
Für den klugen Langfristanleger gilt also folgender Grundsatz:
Oder um es auf neudeutsch zu sagen:
Und wenn Sie nun noch Inflation als „Rost an Ihrer Kapitalanlage“ berücksichtigen und in realen Größen (Kaufkraft) denken, dann gilt dieser Zusammenhang umso mehr.
Rebalancing ist kein Market Timing
Etwas völlig anderes ist es übrigens, wenn Sie als AnlegerIn regelmäßig – sagen wir, einmal jährlich – die unterschiedlichen Elemente Ihres Portfolios anpassen. Um die ursprünglich gewollte Gewichtung Ihres Portfolios wieder herzustellen.
Wenn Sie also z.B. risikoarme Anteile wie Anleihen gegenüber Aktien oder auch die regionale Verteilung wieder auf die ursprünglich angestrebten Verhältnisse „zurücksetzen“.
Ein kurzes Beispiel
Langfristig rentieren die risikostarken Portfolioanteile stärker als die risikoarmen. So steigen also z.B. Aktien oder Aktien-ETF im Verhältnis stärker als z.B. Anleihen. Ihre Gewichtung im Gesamtportfolio nimmt somit über die Zeit zu.
Ohne Rebalancing kann so aus einem Portfolio, welches anfangs die beiden Anteile Aktien und Anleihen im Verhältnis „halbe-halbe“ aufwies, nach zehn Jahren durchaus zu einem Portfolio werden, in dem die risikostarken Anlagen zwei Drittel oder drei Viertel Anteil haben.
Setzt ein Anleger diese Verhältnisse durch regelmäßiges Rebalancing zurück, so ist dies als diszipliniertes, regelgebundenes Verhalten zu würdigen und stellt kein Market Timing dar.
Ausblick
Eine spannende Beweisführung zum Elend von Market Timing folgt im Teil 2 am kommenden Freitag. Und zwar auf Basis von historischen Echtdaten!
Dazu hat mein kluger Freund Stefan nämlich mal in die öffentlich zugängliche Kursdatenbank der Deutschen Börse AG geschaut und mit einer genialen EXCEL-Berechnung sehr aussagefähige Ergebnisse „gezaubert“.
Bis dahin nehmen Sie gerne folgende Zwischenergebnisse mit
- Die Strategie des Market Timing ist eine von nur zwei Erscheinungsformen der Spekulation.
- Der Grundgedanke des Market Timing klingt äußerst plausibel und wirkt sehr verführerisch. Insbesondere im Nachhinein erscheint es immer sehr logisch, dass auf eine Aktienhausse eine Baisse folgen muss und umgekehrt. Dieser Plausibilität liegt jedoch der Rückschaufehler (Hindsight Bias) zugrunde. Hinterher weiß man es ja immer besser. Vertiefend lesen Sie gerne Kapitel 24 „Das habe ich mir ja schon vorher gedacht“ in meinem Buch „Einfach genial entscheiden – Die 55 wichtigsten Erkenntnisse für Ihren Erfolg“.
- Die praktische Umsetzung scheitert einfach an unserer mangelnden Fähigkeit, die Finanzmärkte zu prognostizieren.
- Der mathematische bzw. statistische Erwartungswert von Market Timing ist negativ. Im langfristigen Vergleich schneiden Portfolios mit versuchtem Market Timing also schlechter ab als Portfolios ohne Market Timing. Daher kann man Market Timing als „Loser´s Game“ bezeichnen: Verlieren ist wahrscheinlicher als gewinnen.
- Der negative Erwartungswert von Market Timing ergibt sich aus zwei Komponenten. Erstens treten durch die Handelsaktivitäten Transaktionskosten Und zweitens weisen Aktienmärkte langfristig – bei allen Schwankungen – letztlich einen Wachstumstrend auf. Und in den Phasen, in denen der Market Timer nicht investiert ist, sondern Cash hortet, entgeht ihm dieser Wachstumstrend – ein typischer Fall von Opportunitätskosten. Lesen Sie hierzu vertiefend Kapitel 28 „Die Kosten dessen, was uns entgeht“ in meinem Buch „Einfach genial entscheiden – Die 55 wichtigsten Erkenntnisse für Ihren Erfolg“.
- Mangels funktionierender Kristallkugel kaufen und verkaufen Investoren, die Market Timing betreiben, oftmals zu spät und laufen damit dem abgefahrenen Zug hinterher.
- Bleiben Sie also im Zug sitzen, dann sind Sie garantiert mit dabei, wenn er losfährt.
- Das alles gilt natürlich lediglich unter Berücksichtigung Ihres Anlagehorizonts und Ihrer Risikobereitschaft. Beispielsweise kann bei einem kurzen Anlagehorizont ein völliger Verzicht auf Aktieninvestitionen angebracht sein. Jedoch hat dies nichts mit Market Timing zu tun, sondern mit grundsätzlichen Prinzipien der Anlageallokation und -strategie.
Falls Sie bis zum nächsten Freitag zu ungeduldig sind, Sie also einen gewissen Aktivitätsdruck verspüren sollten, hören Sie doch in diesen Audio Podcast hinein.
5 wichtige Erfolgsfaktoren einer langfristigen Geldanlage. Hier spreche ich darüber, welche Dinge und Verhaltensweisen besonders wichtig für eine erfolgreiche Geldanlage und Vorsorge sind.
Ansonsten gilt wie immer: Empfehlen Sie diesen Blogbeitrag weiter – und bleiben Sie gesund!
Herzliche Grüße
Hartmut Walz
Sei kein LeO!
Erschienen am 29. Januar 2021.
Der Hartmut Walz Finanzblog ist unabhängig, kosten- und werbefrei. Ich erhalte für Links und Empfehlungen keinerlei Honorar, Kick-back, Beteiligung
Sehr geehrter Herr Prof. Walz,
es ist eine Freude, ihre Blogbeiträge und Analysen zu lesen. Insbesondere gehen Sie auch im Detail auf die Kommentare ein- das ist ein erheblicher Aufwand, und gerade das macht Ihren blog so lesenswert- danke dafür!
Ich habe seit Jahren ein Aktiendepot, in der Vergangenheit (zB während Fukushima) auch schon mit viel Glück vierstellige Gewinne mit aktivem Handeln gemacht. Letztlich ist die langjährige Rendite dieses Vorgehens enttäuschend, eine einfache Excel Tabelle mit überschlägigen Berechnungen enthüllt das gnadenlos: Einfach den Depotstand zum Jahresanfang und Ende eingeben, Käufe und Verkäufe addieren und subtrahieren und das Ergebnis ins Verhältnis zum Jahresanfangsstand setzen. Dieses Vorgehen ist nicht genau, aber es öffnet die Augen und subjektiv erfolgreiche Jahre sind nach Abzug von Steuern und Kosten eher mau gelaufen. Seit etwa 2 Jahren investiere ich mit steigenden Summen monatlich (Gratissparplan) bzw. 2 monatlich (Einzelkauf, der Sparplan wäre teurer) in zwei Indexonds, die weltweit aufgestellt sind, einer davon ist ein bekannter Mischfonds. Daneben kaufe ich Aktien, die solide dastehen und wenig spektakulär sind. Und siehe da: in den letzten zwei Jahren ist die Rendite zweistellig! Das Depot hat zum Jahreswechsel die 100000 Euro Grenze durchbrochen. Ich bin dabei stur dem buy and hold gefolgt und habe noch nicht einmal die Sünden der Vergangenheit (zB eine viel zu große Position eines bekannten deutschen Bankhauses) rebalanced. Die Folge sind minimale Kosten, geringe Steuern und ein stressfreier Blick ins Depot. Dabei ist mein Anlagehorizont 12-15 Jahre, je nachdem wie lange ich arbeiten kann und will (Alter 50 Jahre). Ich kann jedem, vor allem den jüngeren Lesern ihres blogs nur raten, zumindest einen Teil seines Geldes in die Anlageklasse Aktien zu investieren. Dabei darf und muss ein Risiko eingegangen werden, das überhaupt nichts mit Spekulation zu tun hat. Ich denke Blogs wie Ihrer und zB von Herrn Kommer helfen bei diesen Entscheidungen sehr weiter. Mit dem Wissen von heute hätte ich im Alter von 28-30 Jahren weniger Lebensversicherungen abgeschlossen (ja, ich bin auf MLP hereingefallen und kann nur vor dieser Organisation warnen!) und wäre heute wahrscheinlich finanziell deutlich besser aufgestellt. Aber es ist nie zu spät, richtige Entscheidungen zu treffen. Meinen Kindern werde ich versuchen, dieses Wissen zu vermitteln,
Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und weiterhin viel Erfolg mit Ihrem blog!
Lieber Medicus, danke sehrr für Ihren ganz persönlichen Erfahrungsbericht!
Der einmal mehr zeigt, dass weniger Aktivität nicht nur bessere Ergebnisse erzeugen kann. Sondern gleichzeitig die Nerven schont. Und wenn Sie diese Erkenntnis an Jüngere weitergeben und diese vor sinnlosen und teuren Anlagevehikeln warnen, dann tun Sie schon vieles, um Deutschland zu einem besseren Platz für Anleger und Vorsorger zu machen. Das freut mich sehr! 😉
Herzliche Grüße, Hartmut Walz – Sei kein LeO!