VERTRAUENSGÜTER SIND KEINE SCHIMMLIGEN BRÖTCHEN
Unser Staat schützt Bürger bei Vertrauensgütern unzureichend
Letzte Woche hatte ich einen Albtraum. Eine alte, zerlumpt wirkende Frau stand vor dem Rednerpult im Deutschen Bundestag. Sie sah aus wie Gretas Großmutter. Oder war es gar Greta – in sechzig Jahren?
Und Greta zischte wütend ein „How dare you?!“ in den völlig stillen Saal.
How dare you – wie konntet oder könnt ihr es wagen, eine ganze Generation (eigentlich gleich mehrere Generationen) derart über ihre Altersvorsorge zu täuschen? Und das Vertrauen von Millionen rechtschaffender und hart arbeitender Bundesbürger in ihre Altersvorsorge so zu enttäuschen?
Ja, ich habe manchmal vorausschauende Albträume…
Der heutige Blogbeitrag will jedoch nicht nur auf Altersvorsorgeprodukte eingehen. Naja, zumindest nur indirekt. Denn heute geht es um Vertrauensgüter. Und Altersvorsorgeprodukte sind typische Vertrauensgüter. Aber der Reihe nach.
Lassen Sie uns schauen, welche Güter Vertrauensgüter sind. Wie sich diese von anderen Gütern unterscheiden. Und wo rechtschaffende BürgerInnen vertrauensbildende Maßnahmen ihres Staates verdient hätten. Und wo sie solche nicht benötigen.
Märkte sind gut und dienen uns allen – meistens
Vorab in Kürze: Märkte sind grundsätzlich gut und funktionieren im Wesentlichen ordentlich. Unser Wohlstand, unsere gesunde Ernährung, unsere gestiegene Bildung und viele gesellschaftliche Fortschritte verdanken wir Märkten.
Dabei kommt der Wohlstand auch denen zugute, die nichts oder wenig dazu beitragen. Denn auch unsere Sozialleistungen wären ohne funktionierende Märkte nicht denkbar.
Wettbewerb ist gut und dient uns allen – meistens
Funktionierende Märkte bewirken einen gesunden Wettbewerb. Dieser ist für den Einzelnen zwar manchmal unangenehm. Zum Beispiel, wenn ein Unternehmen insolvent wird und am Markt ausscheidet.
Aber Wettbewerb kommt der Allgemeinheit und gesamten Gesellschaft zugute. Nicht nur durch niedrigere Preise, sondern vor allem auch durch Qualitätsverbesserungen und Fortschritte in Prozessen und Technologien.
Ach, bin ich froh, dass es beim Zahnarzt so schöne Schmerzspritzen und moderne Behandlungsmethoden gibt. Und dass meine Wohnung eine Heizung hat. Und ich Kleidung kaufen kann, anstatt Tieren das Fell abzuziehen, um mich spärlich zu bekleiden.
Auch wenn manche Zeitgenossen schimpfen, dass in jedem Fall da ja nur mal wieder jemand ein Geschäft machen wollte…
Aber: Märkte funktionieren nicht immer
Jedoch gibt es leider auch Fälle, in denen Märkte versagen. Und sie entweder keinen ausreichenden oder einen moralisch kritikwürdigen oder in sonstiger Weise dysfunktionalen Wettbewerb (Schmutzkonkurrenz) auslösen.
Aus den möglichen Ursachen für ein Versagen von Märkten soll hier nur eine – dafür aber besonders wichtige – beschrieben werden:
Nämlich die ungleiche Informationsverteilung zwischen Anbietern und Nachfragern.
Märkte funktionieren in Abhängigkeit von den Informationsmöglichkeiten der Anbieter und Nachfrager. Dabei wird nach dem Grad der Informationsunsicherheit in drei Arten von Gütern unterschieden. Dazu folgende Abbildung:
Suchgüter
Suchgüter liegen vor, wenn es dem Anbieter eines Produktes oder einer Leistung nicht gelingen kann, dem Nachfrager wesentliche Informationen über die Qualität zu verheimlichen. Oder positiv gesprochen: der Kunde sehr schnell weiß, woran er ist.
Beispiele
Auf dem Wochenmarkt dürfen Kunden vom Frischkäse oder der Olivencreme probieren, bevor sie diese kaufen.
Wäre das im Backshop servierte Brötchen schimmlig, so würde der Käufer sofort reklamieren und sein Geld zurück erhalten.
Der Verbraucher muss bei Suchgütern nicht besonders geschützt werden. Ein wenig gesunder Menschenverstand und kritisches Mitdenken reichen zum Schutze des Verbrauchers aus.
Wer übel schmeckenden Käse oder steinharte Brötchen trotz seines Wissens kauft, dem ist kaum noch zu helfen.
Erfahrungsgüter
Bei Erfahrungsgütern, man ahnt es schon, wird der Kunde erst durch Erfahrung klug. Jedoch ist der Schaden der schlechten Erfahrung gering und der Lerneffekt groß und nützlich.
Beispiele
Der Friseur schneidet die Haare nicht schön. Man muss zwar trotzdem bezahlen, jedoch wachsen die Haare ja wieder und man geht das nächste Mal eben zum nächsten Friseur.
Ebenso ist es mit dem völlig überteuerten Essen in einem bestimmten Restaurant, dem zu lauten Hotelzimmer oder der zu kurz geratenen Hose aus der Änderungsschneiderei.
Kunden machen ihre Erfahrung. Lernen daraus. Tauschen Erfahrungen aus und informieren sich gegenseitig. Letztlich stimmen sie mit den Füßen ab.
Und der Markt wird es von alleine richten. Das Restaurant senkt die Preise oder macht dicht. Das Hotel lässt Schallschutzfenster einbauen und bekommt bessere Gästebewertungen. Die Änderungsschneiderei verbessert die Qualität oder spezialisiert sich auf Hochwasserhosen…
Auch hier regeln sich also die Märkte selbst und staatliche Eingriffe bzw. Regulierungen sind nicht nötig.
Wichtige Merkmale von Erfahrungsgütern sind also, dass der Schaden einer Fehlentscheidung begrenzt ist und vergleichbare Entscheidungen immer wieder auftreten, so dass der Kunde = Nachfrager aus seiner Erfahrung tatsächlich einen Vorteil ziehen kann.
Deshalb stellt der Bau eines Eigenheims zum Beispiel kein Erfahrungsgut dar. Wir tun das meistens nur einmal.
Vertrauensgüter
Bei Vertrauensgütern hat es der Kunde = Nachfrager besonders schwer, an die Information über Preise und Qualitäten zu kommen. Die relevanten Informationen können von der Anbieterseite zurückgehalten werden bzw. sind erst lange nach der Kaufentscheidung erkennbar.
Beispiele
Dass der Chirurg in einer teuren und mondän ausgestatteten Privatklink nicht so fähig war, bemerkt der Patient erst nach der OP – oder eben gar nicht und kann im letzten Fall auch keine Erfahrung weitergeben, da er nach der OP nicht mehr aufwacht.
Und dass viele langfristige Vorsorgeverträge nicht annähernd die Leistungen erbringen, die von fleißigen FPVs in (natürlich unverbindlichen) Modellrechnungen suggeriert wurden, das merkt der typische Private oft erst nach 25, 30 oder 35 Jahren.
Also wenn es zu spät ist!
Die Parallele zum Rauchen ist unübersehbar. Auch hier kommt das dicke Ende erst zum Schluss. Während man jahrzehntelang scheinbar „ungestraft“ rauchen kann.
Doch während es auf Zigarettenpackungen abschreckende Bilder und Sätze gibt, fehlen diese überraschenderweise bei vielen mangelhaften Altersvorsorgeprodukten.
Wie fänden Sie diesen Satz?
Oder diesen?
Mit diesen schlichten und kurzen Überlegungen wird schon klar, wo der Staat in den Markt eingreifen müsste und wo nicht.
Die nachstehende Infobox enthält zusätzliches Hintergrundwissen über den Forschungszweig der Modernen Informationsökonomik, dem wir – neben vielem anderen – die Unterscheidung von Such-, Erfahrungs-, und Vertrauensgütern verdanken. Sie kann von eiligen LeserInnen ohne Verluste übersprungen werden.
Vertrauensgüter schwächen Verbraucher
Hinter dem sperrigen Fachbegriff „asymmetrische Information“ zwischen Verkäufer und Käufer steht ganz einfach die Tatsache, dass der Verkäufer erheblich mehr relevante Information über den Gegenstand hat, die der Käufer = Nachfrager nicht oder nicht mit vertretbarem Aufwand erhalten kann.
Dieses Informationsgefälle führt zu einem ungesunden Machtgefälle zu Lasten des Nachfragers, welches sich in drei konkreten Punkten zeigt.
1. hidden information – versteckte Information
Relevante Informationen bleiben dem Nachfrager vorenthalten oder können von diesem im Zeitablauf erst scheibchenweise gesammelt werden. Dann ist es aber teilweise oder vollständig zu spät.
Dies ist der einfachste Fall. Zum Bespiel die fehlende Erkennbarkeit oder Höhe und Auswirkung von Kostenkomponenten in Spar- oder Vorsorgeverträgen.
2. hidden action – nachträgliche, versteckte Handlungen
Hiermit sind Aktivitäten gemeint, die der Anbieter nach Vertragsschluss und im Laufe der Vertragszeit vornimmt. Meist, um seine eigenen Erträge zu Lasten des Kunden zu steigern.
„Anpassungen“ von Kalkulationsverfahren, nachträgliche Risikoerhöhungen im verwalteten Kundenportfolio und unzählige weitere – meist schwer zu erklärende – Beispiele bieten eine lange Liste.
Die im Jahr 2004 von der damaligen rot-grünen Bundesregierung unter Zustimmung der Union vorgenommene (rückwirkende!) Belastung von Betriebsrenten mit Krankenversicherungsbeiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ist ein dramatisches Beispiel dafür, dass auch der Staat vor „hidden action“ nicht zurückschreckt.
3. overpricing – zu hohes Preisniveau bzw. zu schlechtes Preis-Leistungsverhältnis
Dies bedeutet schlicht und einfach, dass der Kunde zu wenig vom Kuchen abbekommt, wenn man den Markt bei Vertrauensgütern einfach sich selbst überlässt.
Der Informationsvorsprung der Anbieter führt zu einer Selbstbedienungsmentalität unter ihnen. Und der Kunde ist der Verlierer.
Ob ich dafür Beispiele habe?
Leider allzu viele. Schauen Sie mal auf die schlimme Kostentreppe, Kapitel D 7 in meinem Buch „Einfach genial entscheiden in Geld- und Finanzfragen“.
Wenn bei einer langjährigen fondsgebundenen Lebensversicherung das Kundengeld in Aktien investiert ist, die eine Durchschnittsrendite von 9-10% p.a. erbringen.
Dem Kunden aber am Laufzeitende davon nur ca. 1,7% Rendite p.a. ausgezahlt wird. Und dies bei einer durchschnittlichen Inflationsrate von knapp 3% p.a. während der Laufzeit.
Dann wird erkennbar, dass der Kunde einen viel zu kleinen Teil vom Kuchen bekommt! Das ist Overpricing in Reinform.
Die Ausnahme?
Nein. Die absolute Regel!
Noch Fragen?
Und was bedeutet das nun konkret für Sie?
- Ob und wie gut Märkte funktionieren (und sich selbst reinigen), hängt insbesondere von den Informationsständen und -bedingungen der Anbieter und Nachfrager, Verkäufer und Kunden) ab. Also dem Informationsgefälle bzw. der Informationsasymmetrie.
- Anhänger bestimmter politischer Lager würden Märkte am liebsten komplett abschaffen alle Märkte regulieren.
- Anhänger anderer politischer Richtungen vertreten auch heute noch die Lehre der völligen Freiheit der Märkte und glauben ausnahmslos an deren Selbstheilungskräfte.
- Die wissenschaftliche Lehre „Moderne Informationsökonomik“ weist mit der Unterscheidung von Märkten für Such-, Erfahrungs-, und Vertrauensgüter einen gangbaren Kompromiss.
- Auch wenn es sicher Grauzonen gibt, über die man trefflich streiten kann, sollte sich staatliche Regulierung primär auf Vertrauensgüter konzentrieren.
- Der Abbau von Informationsgefällen bei Finanz- und Vorsorgedienstleistungen ist kein unüberwindbares Hindernis und ließe sich sachlich durchaus vorantreiben und viel besser gestalten, als dies Stand 2019 in unserem Land realisiert ist.
- Das (verständliche) Eigeninteresse der Anbieterseite und eine exzellente Lobbypolitik verhindern jedoch einen – gesamtwirtschaftlich überfälligen – Abbau des Informationsgefälles.
- Der Schaden für den Verbraucher ist immens und besteht aus zwei Komponenten
1. Bei bestehenden Vorsorgeverträgen erhält der Kunde einen zu geringen Teil des Kuchens (overpricing)
2. Die Kenntnis der Problematik und das – leider in weiten Teilen berechtigte – Misstrauen vieler Bürger führen dazu, dass Sie langfristiges Sparen bzw. Vorsorgen unterlassen oder zu gering dimensionieren. - Gerade der volkswirtschaftliche Schaden dieses letztgenannten Punktes betrifft uns alle – zum Beispiel durch zusätzliche steuerfinanzierte Sozialleistungen für Menschen, die aufgrund mangelnder Eigenvorsorge in Altersarmut geraten sind.
- Letztlich steht einem großen Gewinn der erfolgreich agierenden Lobby ein ungleich größerer Schaden der Allgemeinheit gegenüber.
So – das musste mal gesagt werden. Machen Sie was draus!
Übrigens – der Hartmut Walz Finanzblog ist zwar kein Vertrauensgut, aber eine Leistung, der Sie vertrauen können! Und die Sie weiterempfehlen können.
Herzliche Grüße
Hartmut Walz
Sei kein LeO!
Erschienen am 29. November 2019.
Der Hartmut Walz Finanzblog ist unabhängig, kosten- und werbefrei. Ich erhalte für Links und Empfehlungen keinerlei Honorar, Kick-back, Beteiligung o. ä.
Auch Autos gehören wohl zu den Vertrauensgütern. Diese vernichten bei vielen Menschen die Altersvorsorge. Insbesondere die Weichkosten für Marketing etc. und Zusatzkosten für irrsinnige Elektronik wie Sitzverstellung und viele weitere Dinge. Das alles fehlt dann zur Altersvorsorge. Und die Kosten hier sind vermutlich noch viel höher als bei den Altersvorsorgeprodukten. Bei den meisten Autos sollte auch ein Warnhinweis stehen: Die Kosten blockieren erheblich Ihr Potential zur Altersversorgung. Interessant ist der oft schon automatisierte Neuwagenkauf nach ein paar Jahren, wie beim Leasing. Das ist eine vielleicht trickreiche Geldvernichtung hinsichtlich stets wieder von vorn beginnender Wertminderungsbeträge vom Neupreis. Ich finde, dass hier auch die staatliche Regulierung dringend Not tut. Hier geht eventuell noch mehr Geld verloren – volkswirtschaftlich. Dieses Geld in die Altersversorgung eingesetzt, würde den Wohlstand im Ruhestand wahrscheinlich beträchtlich erhöhen. Dank Ihres Artikels ist mir das auch in dieser Branche erst bewusst geworden. Ich werde meinen Wagen jetzt solange fahren, bis er schrottreif ist. Und meine Raten zum Investmentsparplan kann ich dann simultan zu den ersparten Neuwagen-Wertverlust-Zyklen kräftig steigern.
Lieber Herr Malkmus, herzlichen Dank für Ihren Kommentar. Auch wenn ich diesem überhaupt nicht zustimme. Wenn Sie für sich selbst mit dem Verzicht auf das ständig neueste Auto sowie “irrsinnige Elektronik” ihren persönlichen Weg gefunden haben, dann ist das völlig in Ordnung.
Wenn Sie jedoch plötzlich Autos zu Vertrauensgütern erklären, dann haben Sie nicht nur mich, sondern vor allem die drei Nobelpreisträger der Informationsökonomie gründlich missverstanden. Hmm… und es wären neben Autos ganz viele Güter Vertrauensgüter. Denken Sie nur an schicke, aber teure Keidung (auch für Männer!), an Schmuck und Markenuhren, Unterhaltungselektronik. Oder an Kneipen- oder Restaurantbesuche. Hier ließe sich nötigenfalls eine Menge Geld sparen, wenn es darauf ankommt…
Nur bei all diesen Gütern und Dienstleistungen können Konsumenten zeitnah feststellen, ob sich der Gegenwert für ihren Geldeinsatz gelohnt hat oder nicht. Und so fahre ich nach der ernüchternden “Er-Fahrung” meines ersten Aston Martin (kleine Jugendsünde) nun auch wieder ganz normale Autos 🙂
Das ist alles kein Vergleich zu einem vierzig Jahre laufenden Altersvorsorgevertrag, bei dem Sie erst im Rentenstand erfahren, dass Sie vielleicht die falsche Allianz fürs Leben geschlossen haben.
Herzliche Grüße, Hartmut Walz – Sei kein LeO!
Lieber Herr Prof. Walz,
Da haben Sie natürlich recht. Kostenfallen kann man bei Autos tatsächlich schneller erkennen. Vielleicht sind Immobilien (auch selbstgenutzte) ein Vertrauensprodukt? Dort sind die wahren Kosten von Bauträgern nicht so transparent. Hinzu kommen mögliche (auch versteckte) Mängel in der Bauqualität, die oft erst nach nach der gestzlichen Gewährleistung (5 Jahre) auftauchen. Aber ich bin jetzt vorsichtiger geworden mit der Definition von Vertrauensprodukten. Mir geht es insgesamt um Einsparung von Kosten im Sinne einer effektiveren Altersvorsorge. Vielen Danke jedenfalls für die Richtigstellung bzw. Definition zu Vertrauensprodukten 🙂