DIESEL-AFFÄRE IN DER FINANZDIENSTLEISTUNGSBRANCHE DENKBAR?
Wohl eher nicht.
Warum würde es eine Diesel-Affäre in der Finanzdienstleistungsindustrie nie geben? Warum verursachen die Regelverstöße und falschen Informationen der Kfz-Branche Aufschrei und Entrüstung, werden solche der Finanzdienstleistungsbranche jedoch ohne vergleichbare Erregung hingenommen?
Bitte stellen Sie mit mir gemeinsam einmal das nachfolgende Gedankenexperiment an:
Lassen Sie uns annehmen, dass die Transparenzvorschriften, die in der Finanzdienstleistungsindustrie gelten, entsprechend auch in der Automobilindustrie zur Anwendung kämen.
Was würde dann passieren?
Müsste ein Kfz-Hersteller Ihnen dann den Kraftstoffverbrauch Ihres Fahrzeugs benennen?
Antwort: Nein!
Er müsste Ihnen weder den Kraftstoffverbrauch noch irgendwelche technische Daten wie z. B. die Motorleistung oder das Gewicht oder die Zuladung benennen.
Er müsste lediglich ein DIN A 4 Blatt zur Verfügung stellen, in dem ein paar Produktinformationen enthalten sind. Sozusagen ein Beipackzettel, in dem steht, dass Sie mit Ihrem Kfz fahren können, vielleicht noch wie schnell, dass Sie damit einen Unfall mit Todesfolge verursachen könnten, was einzelne ausgewählte Teile Ihres Fahrzeugs kosten und wie sich der Wiederverkaufswert ähnlicher Fahrzeuge in früherer Zeit entwickelt hat (vgl. Produktinformationsblatt bei Finanzprodukten: Anlageziele, Risiko, Kosten und historische Wertentwicklung).
Jedoch wäre im Kleingedruckten sicher auch geregelt, dass der Kfz-Hersteller Ihnen beim jährlichen Kundendienst zwei Türen zuschweißen darf, so dass aus Ihrem Viertürer ein Zweitürer wird. Natürlich ohne irgendwelche Minderung oder Kaufpreiserstattung (oder andere „kostenfreie Nachrüstaktionen“).
Müsste der Kfz-Hersteller Ihnen den Preis des Fahrzeugs und die Folgekosten (z. B. die Typenklasse) korrekt benennen?
Antwort: Nein!
Er müsste Ihnen nur ein paar ausgewählte Kostenarten nennen, die Ihnen den Eindruck vermitteln, dass Sie den Überblick hätten. Jedoch dürfte er Ihnen ganz erhebliche Kostenkomponenten verschweigen oder nur nebulös andeuten, so dass Sie diese nicht annähernd korrekt einschätzen können.
Würde ein Kfz-Hersteller am Markt überleben, bei dem über die Hälfte bis zu zwei Dritteln der Kunden aus den vereinbarten Leasingverträgen aussteigen, ihren Vertrag mit großem Schaden kündigen bzw. aufgeben und erheblichen finanziellen Nachteil erleiden?
Sie kennen die Antwort: Nein!
Können Sie sich vorstellen, dass ein Kfz-Hersteller nach Einführung der „Abwrackprämie“ seine Fahrzeuge so stark verteuert, dass Sie trotz Erhalt der Prämie insgesamt mehr zahlen als zuvor ohne die Prämie? Mit anderen Worten: Dass die Prämie dann zu über 100 % beim Kfz-Hersteller landet und nicht bei Ihnen, dem Kunden?
In der Finanzdienstleistungsindustrie ist dies völlig normal und zum Beispiel unter den Begriffen „Riester-Förderung“ wie auch „Rürup-Rente“ wohlbekannt.
Lassen Sie uns das Gedankenexperiment an dieser Stelle abbrechen, bevor sowohl Sie als auch ich schlechte Laune bekommen.
Klarstellung: Ich nehme die Diesel-Affäre und ihre Auswirkungen auf das Image deutscher Ingenieurkunst, die Glaubwürdigkeit der Automobilbranche und nicht zuletzt das Zusammenwirken staatlicher Aufsichtsstellen und Lobbyismus sehr ernst.
Die Schlussfolgerungen unseres kleinen Vergleichs der Transparenzvorgaben zwischen Automobil- und Finanzbranche sind indes eindeutig: Unterschiedliche Branchen unterliegen offenbar sehr unterschiedlichen gesetzlichen Anforderungen in Hinblick auf Verbraucherschutz, Transparenz und Qualität ihrer Produkte.
Und bei der Finanzdienstleistungsbranche Deutschlands sind Verbraucherschutz, Transparenz und Produktqualität ganz besonders schlecht.
Während mancher Hersteller von Produkten bei fehlendem Markterfolg in die Insolvenz geht, werden Finanzdienstleistungsunternehmen (je größer desto wahrscheinlicher) mit Steuergeldern gerettet.
Und damit solche Rettungsaktionen möglichst nicht nötig werden, greift die Gesetzgebung in vorauseilendem Gehorsam auch schon mal in ein langjährig bestehendes Regelwerk ein (siehe Zinszusatzreserve bei den Versicherungsgesellschaften).
Kurzum: Sie sind gut beraten, wenn Sie darüber Klarheit gewinnen, dass bei Finanz- und Vorsorgedienstleistungen Systemschutz über Verbraucherschutz geht.
Und was bedeutet das nun konkret für Sie?
- Behalten Sie die Hoheit und Handlungsfähigkeit über Ihre Ersparnisse. Das bedeutet, dass Sie – wann immer möglich – Anlagevehikel und langfristige, unflexible Verträge vermeiden.
- Hinterfragen Sie sehr intensiv die Sinnhaftigkeit des Abschlusses von Riester- und Rürup-Verträgen sowie traditioneller Kapitalbildender Lebens- oder Rentenversicherungen.
- Gleiches gilt für die meisten Fondsgebundenen Lebens- oder Rentenversicherungen – hier ist als mögliche Ausnahme lediglich die Produktkategorie „Netto-Tarife“ zu benennen, bei der Sie über einen unabhängigen Honorarberater eine erheblich kostengünstigere und transparente Police ohne Vertriebskosten abschließen können.
- Auch Bausparverträge (z. B. im Rahmen von Wohn-Riester) sind kritisch zu hinterfragen – über 90 % der abgeschlossenen Verträge sind für den Kunden unvorteilhaft.
Alles in allem ist es unumgänglich, dass Sie sich selbst ein wenig „aufschlauen“ – das tun Sie ja aber schon durch die Lektüre dieses Finanzblogs. Und vielleicht auch durch mein Buch „Einfach genial entscheiden in Geld- und Finanzfragen“. In dessen Teil D nehme ich mir einzelne Anlageklassen und Anlagevehikel vor – dezidiert und praxisrelevant.
Um es gleich vorweg zu sagen: Die wenigsten Anlagevehikel kommen wirklich gut dabei weg.
Informieren Sie sich und prüfen Sie möglichst rational und kritisch – die Zeit und Mühe lohnt sich!
Schreiben Sie mir gerne einen Kommentar, zu welchen Schlussfolgerungen Sie gekommen sind und wie Sie persönlich mit der lückenhaften Information bei Finanzdienstleistungsprodukten umgehen.
Herzliche Grüße
Hartmut Walz
Sei kein LeO!
Erschienen am 28. Juli 2017.
Vielen Dank für den sehr gut nachvollziehbaren Vergleich, der die Augen noch weiter öffnet und das Ausmaß der skandalösen Regulierungsdefizite in der Finanzbranchen und des Gebahrens von klassischen Finanzdienstleistern offenbart!
Gerne, lieber Herr Gebhardt,
ich würde mich sehr freuen, wenn wir nach dem “Dieselgipfel” auch bald mal einen “Vorsorgegipfel” erleben würden. Denn dass Kostenquoten von über 100 % der vom Sparer bezahlten Beiträge rechtens sind, kann man einem rechtschaffen arbeitenden und sparenden Bürger weder vermitteln, noch sollte man es ihm zumuten. Viele andere Länder machen uns doch erfolgreich vor, dass es ganz erheblich billiger, transparenter und effizienter geht.
Herzliche Grüße Hartmut Walz – Sei kein LeO!